Hochschule Bremen gründet „Institut für digitale Teilhabe“

Wie kann der digitale Wandel zu einem gesellschaftlichen Wandel werden, der insgesamt zu mehr Teilhabe auch für Menschen mit Behinderung führt? Welche Chancen und Risiken birgt digitale Teilhabe für Menschen mit Behinderung? Hier setzt das im Januar 2021 gegründete „Institut für digitale Teilhabe“ der Hochschule Bremen an: In Lehre, Forschung und Transfer sollen anwendungsbezogene Projekte in Bezug auf die digitale Teilhabe in den Alltag integriert werden. „Zunächst konzentriert sich das Institut auf die Bereiche Arbeitswelt und öffentliche Verwaltung“, erläutern die Institutsleiter Prof. Dr. Benjamin Tannert, Professor für angewandte Medieninformatik, und Honorarprofessor Henning Lühr, langjähriger ehemaliger Staatsrat im Finanzressort.

Die Integration und Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigung in der Arbeitswelt ist eines der Hauptanliegen des Instituts. So sollen bereits bestehende Systeme besser bekannt und nutzbar gemacht werden. In neuen Projekten soll das Thema der Integration von behinderten Menschen in den ersten Arbeitsmarkt bzw. die Arbeitswelt bearbeitet werden. Ein weiterer Fokus liegt auf der dauerhaften Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigung. Hier soll es um Aspekte wie die Unterstützung während der Arbeitszeit oder auf dem Arbeitsweg gehen.

Ein zweiter Bereich ist der öffentliche Sektor: Das Online-Zugangsgesetz legt fest, dass bis zum 31. Dezember 2022 insgesamt 575 öffentliche Dienstleistungen online angeboten werden müssen. Die Umsetzung erfolgt in 14 Themenfeldern unter der Federführung der Länder. Die Barrierefreiheit von bestehenden oder auch noch zu entwickelnden digitalen Medien ist dabei ein weiterer wichtiger Baustein.

Generell bietet das „Institut für digitale Teilhabe“ der Hochschule Bremen Unterstützung, Beratung und Prozessbegleitung an, wenn es um bestehende oder neu zu konzipierenden Anwendungen die Barrierefreiheit geht. Zudem wird es Workshops, Schulungen und Vorträge zu barrierefreiem E-Government geben. Konkret bedeutet dies den Zugang zu den elektronischen Angeboten und Dienstleistungen und zum anderen verwaltungsinterne elektronische Abläufe barrierefrei zu gestalten. Nur so lässt sich das Potential der elektronischen Medien wirklich ausschöpfen, und niemand wird von deren Nutzung ausgeschlossen. Von dieser Optimierung profitieren alle Seiten: die öffentlichen Verwaltungen, weil der Arbeitsaufwand verringert wird, und die Menschen mit Behinderungen, weil dieser Prozess eine große Chance auf gesellschaftliche Partizipation und Integration in das Arbeitsleben bietet.

Erste Projektideen hat das „Institut für digitale Teilhabe“ bereits: Bei den „User-Tests für mehr Barrierefreiheit“ soll eine zweiköpfige Projektleitung einen Pool von Testpersonen aufbauen. Diese werden als Honorarkräfte für Anforderungsanalysen oder Tests eingesetzt, um die Umsetzung von Projekten in die Barrierefreiheit zu begleiten. Die Projektleitung organisiert die Test-Phasen, die Terminplanung und die Dokumentation. Die Testpersonen unterscheiden sich voneinander in der Art der Beeinträchtigung bzw. Nutzung von Assistenz-Technologien, Alter, Geschlecht und ggf. noch weiteren Kategorien. In der Begleitung der Testphasen werden zudem Konzepte und Standards erarbeitet, die sowohl eine barrierefreie Entwicklung als auch die Partizipation von Menschen mit Einschränkungen in der Entwicklungsphase unterstützen.

Mit dem „Modell-Curriculum für digitale Barrierefreiheit“ soll eine Grundlage sowohl für die Hochschuldidaktik als auch für fachpraktische Ausbildung geschaffen werden. Zudem soll dieser Rahmen als Baustein für die Weiterbildung von IT-Fach- und -Führungskräften dienen. Dieses Modell-Curriculum beinhaltet basierend auf einer Bedarfsanalyse die sich daraus ergebenden Anforderungen sowie die Mittel und Methoden, um diese Anforderungen umzusetzen. Hierbei werden ganz bewusst die verschiedensten Arten von Einschränkungen in Betracht gezogen, um eine digitale Barrierefreiheit für jede Art der Behinderung herzustellen.

Im Projekt „Digitale Bürgerbeteiligung für alle“ wird prototypisch eine digitale inklusive Zukunftswerkstatt konzipiert, entwickelt, erprobt und evaluiert. Gemeinsam mit der Bürgerstiftung Bremen wird das Thema bearbeitet. Ziel sind Vorgehensweisen, digitale Tools sowie Standards für Verfahren der Bürgerbeteiligung an politischen Vorgängen, die wirklich alle ansprechen und einbeziehen. Technische Barrierefreiheit ist dafür nur eine notwendige Voraussetzung. Hinzu kommen Ansprache, Mobilisierung und Motivierung bisher nicht beteiligter und daher unterrepräsentierter Gruppen, insbesondere von Menschen mit Behinderungen. Insbesondere die Bedingungen und der Verlauf ihrer Beteiligung werden ausgewertet und in allgemein anwendbare Empfehlungen umgesetzt.

Auf allen Ebenen – Kommunen, Länder, Bund, EU – finden solche Partizipationsverfahren zunehmend digital gestützt oder ausschließlich im Internet statt. Die aktuelle Covid19-Pandemie wird diesen Trend weiter befördern. Für viele Menschen mit Behinderungen eröffnet dies neue Möglichkeiten der Teilhabe. Dafür müssen digitale Bürgerbeteiligungen aber barrierefrei und in einem umfassenden Sinne zugänglich gestaltet werden.

Angesichts zunehmender Digitalisierung erfordert Teilhabe immer häufiger die Nutzung digitaler Technologien. Auch wenn diese Angebote alle Anforderungen der Barrierefreiheit erfüllen, bleibt für Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen immer noch ein Bedarf an persönlicher Unterstützung, an „Digitalassistenz“. Wenn es dabei um rechtlich verbindliche Transaktionen wie Online-Einkaufen, Online-Banking, Video-Sprechstunden oder um Online-Dienste der Verwaltung mit Schriftform-Erfordernissen geht, stellen sich nicht nur didaktische, sondern auch rechtliche Fragen in Bezug auf den Umgang mit Passwörtern, die Haftung für Übermittlungsfehler und anderes mehr. Die Sozialverbände haben zurzeit noch keine Regelungen für solche Assistenzleistungen und zögern mit entsprechenden Angeboten. Das Institut will Rahmen des Projekts „Soziale Teilhabe durch Digitalassistenz“ Regelungen für eine beauftragte oder bevollmächtigte Digitalassistenz erproben, damit wirklich niemand von der digitalen Teilhabe ausgeschlossen wird.

Für diese Projekte werden zur Zeit Konzepte ausgearbeitet und mit den zuständigen öffentlichen Verwaltungen und Dienstleistern über mögliche Finanzierungen verhandelt.

Das Portfolio des „Instituts für digitale Teilhabe“ wird abgerundet durch die Herausgabe des Handbuches „Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit für die digitale Verwaltung“ (Hrsg.: Henning Lühr, Ulrike Peter). Das Handbuch wird im Frühjahr 2021 im Deutschen Kommunalverlag erscheinen.

„Die digitale Gestaltung der neuen Arbeitswelt erfordert eine noch engere  anwendungsbezogene Kooperation zwischen der Forschung und der tatsächlichen Umsetzung der Projekte in Betrieben und Verwaltungen“, erläutert Henning Lühr. „Bremen setzt dabei auf seine Tradition der Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis und entwickelt neue Felder in der Qualifizierung, Beratung und Forschung: ,eGovernment made in Bremen!“ Benjamin Tannert ergänzt: „Digitalisierung für alle wäre schön, ist aber nicht von heute auf morgen umsetzbar. Vielmehr muss die Digitalisierung von vornherein so umgesetzt werden, dass alle partizipieren können. Diesen Grundgedanken wollen wir in unserer Forschung und Entwicklung gemeinsam mit unterschiedlichsten Stakeholdern umsetzen.“

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