Die „digitale Transformation“ fordert neue Führungsqualitäten

Die neue Arbeitswelt wird mit vielen Schlagworten belegt. Alle sind irgendwie richtig, doch auch falsch, weil sie meist zu kurz greifen. Ein Kernelement der digitalen Transformation in Unternehmen ist die Vernetzung und damit die ganzheitliche Betrachtung, was unter dem jeweiligen Gesichtspunkt mit wem oder was zu vernetzen ist. So tangiert z.B. Remote-Leadership – die „neue“ Art des Führens –  nicht nur die Technikkompetenz des Einzelnen, sondern fordert auch Führungsstil und Kommunikation – und damit in letzter Konsequenz die Unternehmenskultur – heraus. Eine ganzheitliche Betrachtung des Themas geht über das Schlagwort „Home-Office“ und seine Aspekte hinaus und erfordert eine Unternehmensstrategie, die auf die Zukunft ausgerichtet ist und nicht nur Krisenzeiten überbrückt.

Home-Office – eine Facette des neuen „Normal“

Von heute auf morgen entwickelte sich das Home-Office in den letzten Monaten von einer Option für einige zum Mittel der Wahl und zur Perspektive für viele. Die Mitarbeiter*innen lernten im Crash-Kurs Video-Conferencing und machten die Erfahrung, dass das Arbeiten von zuhause, ohne den Zugriff auf alle arbeitsrelevanten Daten, oftmals eben nicht reibungslos funktioniert. Die IT-Abteilungen waren gefragt wie nie zuvor. Nach Überwindung der technischen Hürden folgte bei vielen das „Erleben“ der menschlichen Aspekte des digitalen Arbeitens in dezentralen Strukturen: soziale Isolation, familiäre Rahmenbedingungen, suboptimale Arbeitsplätze, die Notwendigkeit, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden etc. Aktuell gehen Arbeitsmarkt-Experten dennoch davon aus, dass das Arbeiten im Home-Office bzw. dezentrales vernetztes Arbeiten in Teams auch nach der Corona-Pandemie in den Firmen fest etabliert bleiben wird. Die Studienlage hierzu überschlägt sich nahezu [1, 2, 3].  Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in veränderten Arbeitswelten etwas mit den Menschen passiert. „Im Home-Office sinkt der Stresslevel und die Produktivität steigt“, zeigt eine Studie der Krankenkasse DAK aus dem Juli 2020 [4]. Klingt unter Produktivitätsgesichtspunkten zwar gut, aber die Menschen vermissen auch den Arbeitsplatz im Firmengebäude – nicht zuletzt auch wegen der guten Ausstattung ihrer Arbeitsplätze im Firmenbüro. Am liebsten hätten die meisten Mitarbeiter daher gern die Möglichkeit, situativ abzuwechseln. Zu diesem Ergebnis kommt eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Industrieverbands Büro und Arbeitswelt e.V. (IBA) [5].  

Führungsprobleme auf einem neuen Level

Viele Führungskräfte waren in Deutschland schon vor 2020 in vielerlei Hinsicht Showstopper: Eine Studie [1] kommt zu dem Ergebnis, dass Führungskräfte vor Corona zurückhaltend bis kritisch waren, wenn ortsflexible Arbeitsformen umgesetzt werden sollten. Sie legten eher Wert auf die Präsenz der Mitarbeiter*innen vor Ort und befürchteten eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten. Da ist es nicht verwunderlich, dass vielen Führungskräften bei der Führung auf Distanz jetzt die Routine fehlt. 40% der befragten Unternehmen gaben an, bei den Führungskräften ein: "[…]definitives Schulungsdefizit in Bezug auf Führung auf Distanz (Remote-Leadership)" zu sehen: Die Fähigkeiten, Aufgaben zu delegieren, Teams zu organisieren und den Fürsorgepflichten nachzukommen, seien in Zeiten distanzierten Arbeitens nicht sonderlich gut ausgeprägt [1]. Der Weiterbildungsbedarf ist also groß.

Das „Berufsbild“ ändert sich rapide

Führungskräfte stehen in Zukunft vor einer umfassenden Herausforderung. Wenn das Home-Office in vielen Bereichen bleibt und Teams dezentraler arbeiten, dann ändert sich zwangsläufig auch das „Berufsbild“ einer Führungskraft.  Und was in der analogen Welt galt, ist auch in der digitalen Welt wichtig – allerdings unter „verschärften“ Bedingungen. Das Führungsverhalten mit bewusstem Tun und Lassen hat bei der Arbeit auf Distanz eine viel größere Wirkung als bei der Präsenzführung. Die Technik, also dafür passende digitale Instrumente für Kommunikation, Kooperation und Koordination, hilft dann, die Entfernungen zu überbrücken, damit gute „digitale“ Führung stattfinden kann. Diese neue Kernkompetenz von Führungskräften wird zum Schlüsselfaktor, damit der digitale Wandel in Unternehmen erfolgreich gelingt. Dabei werden die neuen Skills in einer digitalen Welt letzten Endes zum Wettbewerbsfaktor.

Die Megatrends Digitalisierung und Individualisierung und ihre wechselseitige Beeinflussung führen zu einer Erosion alter Führungsmodelle. Das althergebrachte Prinzip von Anweisung und Ausführung läuft bei verteilten Teams zu oft ins Leere. Der/die Vorgesetzte als Kommandeur*in hat ausgedient. Nun geht es vielmehr darum, auf Augenhöhe zu koordinieren, zu moderieren, zu motivieren und dialogisch zu kommunizieren – ohne die Hierarchie zu verlieren. Was jetzt folgen muss, ist der Schritt vom „Management by Walking Around“ hin zum „Remote-Leadership“: agil, offen, vernetzt und zugleich ergebnisfokussiert agieren. Das passiert idealerweise in der permanenten Balance zwischen direktivem und partizipativem Führen, zwischen Vorgabe und Selbstorganisation. Ein Führungsstil, der sich an Ergebnissen orientiert, nicht an der Präsenzzeit im Büro. Wie weit jede einzelne Führungskraft in diesem Bereich ist, kann man anhand von Tabelle 1 überprüfen.

Den Wandel aktiv annehmen

Führungskräfte und Mitarbeiter*innen stehen gleichermaßen vor den Herausforderungen einer digitalen Arbeitswelt, die jetzt einfach da ist. Mit einem reflektierten Blick auf das, was entscheidend ist, und – bei Bedarf – mit der richtigen Unterstützung ist diese Herausforderung aber genauso zu bewältigen wie jede andere auch. Wer allerdings versucht, einen alten, wenig tauglichen Arbeits- oder Führungsstil in die neue Zeit zu retten, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückbleiben. Das zeichnet sich heute schon ab.

von Dr. Michael Ullmann, ISGATEC GmbH

Literaturtipps

[1] (http://publica.fraunhofer.de/eprints/urn_nbn_de_0011-n-5934454.pdf)

[2] Münchner ifo-Institut (https://www.ifo.de/node/56686

[3] (https://www.eset.com/de/about/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen/corona-effekt-68-prozent-der-beschaeftigten-wollen-nach-der-krise-nicht-dauerhaft-zurueck-ins-buero/).

[4] (https://www.dak.de/dak/download/folien-2295280.pdf). Eine andere Studie, die die mhplus-Krankenkasse und die SDK Süddeutsche Krankenversicherung
(https://www.sdk.de/presse/detail/artikel/homeoffice-studie-zwei-von-drei-angestellten-arbeiten-lieber-zuhause-als-im-buero/) bereits im April durchgeführt hatten, war zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.

[5] (https://iba.online/service/newsroom/schrittweise-zuruck-ins-buro-erkenntnisse-aus-der-zeit-im-homeoffice-auch-fur-die-buroarbeit-nutzen/).

[6] (https://www.nytimes.com/2020/05/12/nyregion/coronavirus-work-from-home.html)

[7] AOK (Befragung des Wirtschaftlichen Institutes der AOK (WIdO) im Rahmen des Fehlzeiten-Reports 2019: https://www.wido.de/publikationen-produkte/buchreihen/fehlzeiten-report/2019/)

Seminar des Autors zu diesem Thema:

https://www.isgatec.com/seminar/remote-leadership-verteilte-teams-erfolgreich-und-motivierend-digital-fuhren/10245

Buch des Autors zu diesem Thema:

„REMOTE-LEADERSHIP – Digitale Führung: Verteilte Teams im Home-Office motivieren und aus der Ferne führen“ als eBook im bookboon Verlag [https://bookboon.com/de]

Tabelle 1: 10 Tipps, wie Remote-Leaderhip in der Praxis gelingt

  1. Gehen Sie als digitales Role-Model voran, zeigen Sie, wie ein ortsunabhängiges Arbeiten gelingen kann. Nutzen Sie konsequent alle digitalen Tools, machen Sie z.B. pünktlich Feierabend, konferieren Sie z.B. beim Spazierengehen und schreiben Sie keine E-Mails am späten Abend oder am Wochenende.
  2. Schaffen Sie faire Bedingungen und sorgen Sie für eindeutige Strukturen (Rollen, Aufgaben, Verantwortung, Abläufe und Prozesse): Alte Strukturen in ein verändertes Modell zu zwängen, ist in der Regel nicht erfolgreich.
  3. Legen Sie (zusammen mit Ihrem Team) klare (Verhaltens-)Regeln für die digitale Zusammenarbeit fest: Welche Tools nutzen wir wie, in welcher Form für welchen Zweck?
  4. Remote-Leadership geht nicht ohne Kontrolle: Digitale Führung braucht klare Abstimmungen zu notwendigen Arbeitsergebnissen und zur Statusüberprüfung.
  5. Sorgen Sie für ausreichend Ressourcen, damit sich alle im Team in die neue Technik einarbeiten und parallel das Tagesgeschäft sowie die Projekte erledigen können.
  6. Bereiten Sie digitale Meetings gut vor: Nie ohne Agenda!!! Die Ergebnisse am besten sofort während des Meetings verschriftlichen (collaborative editing).
  7. Setzen Sie nach Möglichkeit digitale Tools ein, die bekannt oder zumindest einfach zu lernen und zu handhaben sind.
  8. Nutzen Sie so wenige Tools wie möglich und so viele wie nötig: Fokussieren Sie sich auf wenige Tools mit großen Auswirkungen auf die Zusammenarbeit.
  9. Vereinfachen Sie Arbeitsabläufe und Prozesse durch Digitalisierung: Nutzen Sie im Unternehmen bereits vorhandene Software.
  10. Finden Sie eine stabile Balance zwischen Offenheit, echtem Interesse am Menschen und viel Feedback sowie Klarheit, Disziplin und Ergebnisorientierung
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