Corona definiert neue Spielregeln in Wirtschaft und Politik

„Wirtschaftskrisen führen häufig zu einer Neugestaltung des wirtschaftlichen und politischen Systems. Die Coronavirus-Krise bildet hier keine Ausnahme. Die Plötzlichkeit und Tiefe des wirtschaftlichen Schocks stellen die grundlegenden Regeln, mit denen unsere Volkswirtschaften und Gesellschaften funktionieren und interagieren, infrage. Man könnte sogar behaupten, dass das Coronavirus unsere Basis in weniger als einem Monat massiver erschüttert hat als die Finanzkrise 2008.

Welche Regeln galten und welche überstehen die Krise?

1. Regel: Wirtschaft retten, um Defizite kümmern

Entgegen der strikten Haushaltsregeln insbesondere der nordeuropäischen Staaten haben die Regierungen beispiellose fiskalische Maßnahmen zur Unterstützung der Gesundheitssysteme, Unternehmen und Arbeitsplätze initiiert. Der US-Kongress verabschiedete bereits ein Konjunkturpaket in Höhe von 2,1 Billionen Dollar, was etwa 10% des Bruttoinlandsproduktes BIP entspricht. Der Europäische Rat setzte die Haushaltsregeln aus und gibt den Regierungen damit die notwendige Handlungsflexibilität. Weltweit werden Konjunkturpakete umgesetzt. Ende März verpflichteten sich die G20-Regierungen, mehr als 5 Billionen Dollar, also etwa 6% des weltweiten BIP, in die Weltwirtschaft zu investieren. Zumindest kurzfristig werden sich die Regierungen nicht mehr an irgendwelche Haushaltsregeln gebunden fühlen, und die Frage der Tragfähigkeit öffentlicher Verschuldung wird nicht auf dem Tisch kommen.

Sobald die Krise vorbei ist, werden einige der Maßnahmen gelockert werden. Die Schuldentragfähigkeit oder ein möglicher Schuldenerlass werden wieder diskutiert werden. In den USA wird die Schuldenquote neue historische Höchststände erreichen – mit einem möglichen doppelten Effekt. Zum einen könnte der Status der US-Treasuries als risikofreie sichere Anlage zumindest teilweise in Frage gestellt werden. Zum anderen könnte es Auswirkungen auf die Rolle des USD als Leitwährung haben. Langfristig könnte sowohl Europa mit dem Euro aufholen, wenn es koordinierter als bisher agiert, oder auch China, wenn es seinen Einflussbereich weiter ausbaut.

2. Regel: Der Staat sollte sich beschränken

Der Rückzug des Staates seit den 80er Jahren und der Glaube an die Effizienz der Märkte bei der Zuteilung von Ressourcen zur Produktion öffentlicher Güter hat ein zumindest temporäres Ende gefunden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich eine Periode von Teilverstaatlichungen anbahnt. Und es wird wohl zu einem Comeback der Regierungen bei der Produktion und Verwaltung öffentlicher Güter kommen, wie beim weltweit unterfinanzierten Gesundheitssystem.

Auch erhöhen sich die Forderungen nach einem neuen Sozialpakt, in dem die Unternehmen das Gemeinwohl in ihrer Existenzberechtigung verankern müssen, quasi als Gegenleistung für die Rettungsleine, die die Regierungen ausgeworfen haben. Öffentliche Interventionen werden wahrscheinlich mehr westliche als chinesische Unternehmen betreffen, bei denen der Trend trotz der Krise weiter in Richtung Marktöffnung geht. Staatliche Unterstützung wird an Bedingungen geknüpft sein, wie Bekämpfung des Klimawandels oder soziale Entwicklungsziele. Auch die Debatten über Dividenden oder Vergütungen haben bereits begonnen. Insgesamt werden Unternehmen wahrscheinlich höhere ESG-Standards einführen.

3. Regel: Freier Handel bleibt der beste Weg

Die Globalisierung galt bislang als eine solide Politik, die es Millionen von Menschen ermöglicht, der Armut zu entkommen. Die gegenwärtige Krise hat das Potenzial, dieser Denkweise einen tödlichen Stoß zu versetzen. Sie stand mit Donald Trumps „America first“ und den Handelskriegen schon länger unter Beschuss. "Relokalisierung" von Lieferketten liegt im Trend, vor allem in der Textilindustrie, um die Produktion näher an die Nachfrage heranzuführen. Das Volumen des Welthandels ist bereits leicht zurückgegangen.

Die Corona-Krise hat die übermäßige Abhängigkeit zahlreicher Branchen, einschließlich strategischer Sektoren wie dem Gesundheitswesen, von internationalen Lieferketten offengelegt. Die Hauptfrage ist nicht, ob ein Verlagerungsprozess stattfinden wird, sondern wie umfangreich und wie schnell er ausfällt. Dies wird Debatten über den fairen Preis von Gütern und über das faire Lohnniveau in den Industrieländern auslösen und könnte die Inflation beeinflussen. Das Ende des vom Welthandel angetriebenen globalen Wachstums wird große Auswirkungen haben. Insbesondere werden einige Global Player wahrscheinlich durch den Aufstieg neuer regionaler Champions herausgefordert werden. Nationalistische Kräfte könnten zu mehr Protektionismus führen.

Und während kurzfristig der Zusammenbruch der weltweiten Nachfrage eine Deflation begünstigt, könnte sich die wirtschaftliche Erholung mit der einhergehenden Verschuldung, der Monetarisierung der Schulden und der De-Globalisierung des Handels als inflationär erweisen.

4. Regel: Zentralbanken müssen an der Finanzstabilität mitarbeiten

Vor der Coronavirus-Pandemie herrschte in Finanzkreisen die Vorstellung vor, dass der Spielraum der Zentralbanken sehr begrenzt sei. Auch die Theorie der Unabhängigkeit der Zentralbanken war noch lebendig. Und nun gibt es quasi unbegrenzte Unterstützung mit einem neuen Hauptziel, nämlich der kurz- bis mittelfristigen Erhaltung der Wirtschaft. Das Eurosystem wird allein von April bis Dezember Aktiva im Wert von rund 1.050 Milliarden Euro, also fast 9% des BIP, erwerben. Die von der Fed angekündigten Maßnahmen sind noch spektakulärer. Sie kaufte innerhalb von vier Wochen 1.195 Milliarden Dollar in US-Treasuries. Und gemeinsam mit dem US-Finanzministerium hat sie mehrere Investitionsvehikel eingerichtet, die private Wertpapiere für mehrere Billionen Dollar kaufen können.

Es gibt zwei Begleiterscheinungen der gestiegenen Bilanzen der Zentralbanken. Erstens steht die Rolle der Märkte bei der Preisfestsetzung und der Zuteilung von Ressourcen zunehmend unter Druck, da die Maßnahmen der Zentralbanken enorme Auswirkungen auf das Funktionieren der freien Märkte haben. Zweitens sind die Transmissionsmechanismen, also der Prozess, durch den die Geldpolitik die Wirtschaft und das Preisniveau beeinflusst, höchstwahrscheinlich verzerrt.

Die Rolle der Zentralbanken auf den Anleihemärkten schwächt und verändert unweigerlich die Strukturen der Kapitalmärkte. So könnte ein Teil des Hochzinsspektrums während der ersten Interventionswelle profitieren, in einer zweiten Normalisierungswelle jedoch unter Druck geraten. In ähnlicher Weise könnte im Aktienbereich eine gewisse Überreaktion auf kurze Sicht zu langfristigen Chancen führen. Der an den Programmen der Zentralbanken nicht teilnahmeberechtigte Teil der Märkte wird anfälliger für Zahlungsausfälle werden. Die Zentralbankpolitik wird also eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung eines künftigen Regimes spielen.“

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